Die Stadt ohne Essen Pt.III
Some of you may recall the strange affair of the Phantom of the Opera, a mystery never fully explained. We are told, ladies and gentlemen, that this is the very chandelier which figures in the famous disaster. Our workshops have restored it and fitted it up parts of it with wiring for the new electric light, so that we may get a hint of what it may look like when reassembled. Perhaps we may frighten away the ghost of so many years ago with a little illumination, gentlemen?[Prologue, The Phantom Of The Opera]
Gänsehaut.
Das war es nun. Ich weiß nicht, wie viele Jahre ich dieses Ereignis ersehnt hatte. Das Phantom der Oper live zu sehen. Das Musical der Musicals. Und wir saßen drin. Hier auf dem Londoner Broadway. Hier am Picadilly, im "Her Majesty Theatre". Die Bühne war ein Kunstwerk für sich. Zwar sahen wir zu Beginn nicht wirklich etwas davon, doch schon allein die kunstvollen Vorhänge erweckten eine Stimmung in mir, die zu beschreiben mir schwer fällt. Das Theater an sich war außerordentlich hübsch. Prunk an jeder Ecke, Portraits und Reliefs, wo man nur hinschaute. Ja, es war dem Phantom würdig. Irgendwie fühlte man sich schon vor Beginn als Besucher jenes legendären Opernhauses in Paris. Es war großartig. Einzig die Sitze ließen zu wünschen übrig. Ich glaube, die Briten müssen im Durchschnitt sehr viel kleiner sein als wir Landratten. Die Lehnen endeten irgendwo im Kreuz und die Beinfreiheit war schlimmer als im Zug. Als Resultat hatte der Vordermann stets die Knie seines Hintermanns im Rücken. Dank Anne durfte ich aber am Gang sitzen, meine Beine dorthin schieben und konnte so gemütlich dem Geschehen folgen.
Auch nach der Ouvertüre blieb das Hochgefühl. Die Kostüme waren eine Wucht, doch die Bühnenbilder stellten schlicht alles in den Schatten. Und dann kam sie. Mit "Think of me" sang sie sich in die Herzen des Publikums. Und was uns beide betrifft, schaffte es auch weder das Phantom noch Raoul, sie vom Thron zu stürzen. Die beiden männlichen Hauptrollen waren super, aber reichten Christine nicht im Ansatz das Wasser.
Der Theaterbesuch war sein Geld wert. Allemal. Eine unglaublich gute Inszenierung, die tatsächlich beinahe perfekt war. Die Bühnenshow, der Kronleuchter, der Balkon. Klasse. Der Gesang und das Schauspiel waren grandios. Und doch, leider nur beinahe perfekt. Ich persönlich fand das Ende etwas misslungen. Das demaskierte Phantom sah irgendwie lächerlich aus. Außerdem versuchte der Schauspieler nach der Demaskierung eine besondere Bedrohung in seine Stimme zu legen, was ihm meiner Meinung nach misslang. Und so war für mich das Ende des Phantoms der Schnitzer in der sonst so wunderbaren Aufführung. Anne teilt diese letzte Meinung übrigens nicht.
Als wir wieder vor den Toren des Theaters standen, erschlug es uns. War es vorher schon bunt und schrill, so konnte das jetzt noch einmal getoppt werden. Die Straßen voll Party People. Wo man auch hinschaute, lange Limousinen, betrunkene Menschen. Zu viel des Guten. Spontan wurde der Plan gefasst, die letzten Stunden des Aufenthalts irgendwo in einer netten Eckkneipe bei einem Ale oder Cider in der Nähe der Liverpool Street zu verbringen. Lag es an der Müdigkeit oder war es doch sogar für einen Berliner ein Kulturschock, jedenfalls wollten wir nur noch weg. Schnell in den nächsten, natürlich gnadenlos überfüllten, UBahn-Schacht gestiegen. Und kurz darauf schnell wieder raus, als wir uns das erste Mal mit den Preise der ÖPNV in London beschäftigt hatten. Wir würden Laufen, wir hatten ja schließlich Zeit. Zeit, Hunger und langsam aber sicher fiese Beinschmerzen. Was soll's? Zähne zusammenbeißen, da muss man durch. Und wir würden noch mehr von der Stadt sehen. Und tatsächlich, war man einmal aus dem Trubel heraus, war es plötzlich menschenleer. Abermals hangelten wir uns von Karte zu Karte und abermals durchquerten wir sehr nette Straßen und Gassen. Doch was wir nicht fanden, war eine offene Kneipe. Nicht ein kleiner Imbiss, gar nichts. Wir bewegten uns in der Weltmetropole London, durch das zentalste Zentrum, was irgendwie möglich war. Und es gab nichts zu essen. Rein gar nichts. Hatte alles 10pm zugemacht. Unser mittlerweile nahezu unerträglicher Hunger trieb uns vorwärts, in der Hoffnung, im Bahnhof noch etwas zu finden. Wir durchquerten ein nachts recht gruselig wirkendes Industrieviertel und passierten etliche geschlossene Pubs. Und dann kurz vor dem Ziel sahen wir tatsächlich ein offenes Lokal. Randvoll mit Londoner Party People. Kreischend, gröhlend, saufend. Keine Chance. Natürlich bekam man nicht einen Platz, von etwas zwischen die Kiemen ganz zu schweigen. Selbstverständlich waren wir nicht die einzigen Menschen, die in London etwas zum Essen suchen und diese Rarität entdeckten. Und so verabschiedeten wir uns von dem Gedanken eines ruhigen Ausklangs und schleppten uns erschöpft in den Bahnhof. Dort sahen wir... auch nichts. Zumindest auf den ersten Blick hatte alles zu. Doch dann entdeckten wir in einer Ecke einen kleinen Stand, der tatsächlich noch Baguettes verkaufte, vermutlich kurz vor der Schließung. Endlich wieder etwas im Magen zu haben, das erste nach dem Burger vor vierzehn Stunden, erfüllte einen mit einem wohligen Gefühl. Doch die Schmerzen in den Beinen konnten nur mit echten Schmerzmitteln bekämpft werden. Als diese eine Viertelstunde später zu wirken begannen, war ich erneut voller Tatendrang. Meine Begleitung sah zwar nicht mehr danach aus, als würde sie auch nur noch einen Schritt tun, doch noch drei Stunden in dem kalten Bahnhof rumsitzen war keine Alternative. Also wurden erneut Pläne geschmiedet.
Was hatten wir noch nicht gesehen, was kann man mit der U-Bahn erreichen? Ich hätte gern noch meine 500 Founds voll gemacht und hatte dafür einen weiteren Cache im Auge. Eine Dose direkt auf dem Nullmeridian. Hätte gern mal gesehen, wie mein GPS-Gerät in einer Koordinate lauter Nullen anzeigt. Doch dafür musste man bekanntlich nach Greenwich, genauer North Greenwich. Das liegt zwanzig U-Bahn-Minuten von Liverpool Street entfernt. Aber wie schon gesagt, im Grunde hatten wir Zeit. Und sitzend fahren war uns inzwischen allemal lieber als laufen. Wir schauten uns den Metro-Plan an und legten einen Rundkurs fest. Einmal Greenwich, dann Sherlock Holmes in der Baker Street 221b besuchen, und als Abschluss noch ab nach King's Cross zum Gleis 93/4. So freundeten wir uns zu so später Stunde doch noch mit einem Tagesticket an, welches im Gegensatz zur Einzeltour auch nicht so großartig teuer war. Nach einem grandiosen Chaos - welche Farbe hat unsere U-Bahn und diversen Streckensperrungen ausgerechnet an unserem Wochenende, die uns zu riesigen Umwegen zwang, sofern wir unsere Tarifzone nicht illegaler Weise verlassen wollten - fanden wir doch noch den richtigen Zug. Exakt eine Station später allerdings forderte uns eine verdammt unfreundliche Stimme auf, sofort den Zug zu verlassen, die Bahnhöfe würden jetzt schließen. Das muss man sich einmal vorstellen: Es war kurz nach 1am an einem Sonntag und die Londoner Tube macht dicht. Also standen wir wieder da, vor den mit Gittern verschlossenen Toren einer Metro-Station, völlig entmutigt. In der Tasche zwei frisch erworbene Tagestickets.
Wir wanderten nun einfach nur noch drauf los. Ein Busticket wollten wir nun nicht mehr kaufen, wusste man denn, welche Tücke da noch auf uns wartete? Wir wandelten irgendeine Hauptstraße entlang, wendeten urplötzlich, als die Kleene sich entschied, noch einmal das Wasser sehen zu wollen. Wir wandelten diese Hauptstraße wieder zurück. Vorbei an kleinen Gassen mit lauter geschlossenen Pubs. Niedergeschlagen erreichten wir irgendwann die Themse. Ziemlich genau an der Stelle, wo wir sie das erste Mal gesehen hatten. Aus lauter Langeweile machte ich mich daran, das Gemäuer ein drittes Mal nach dieser verflixten Dose zu untersuchen. Wir hatten schließlich Unmengen Zeit. Und keine Lust zum Laufen. Auch jetzt war Ebbe. Auch jetzt fand ich nichts.
Wir erinnerten uns daran, am Mittag von der Millenium Bridge aus die Tower Bridge gesehen zu haben. Uns fiel auf, dass uns aus dem typischen Londoner Sightseeing-Katalog noch der Tower und die dazugehörige Brücke fehlte. Und so schlurften wir halb motiviert die Themse in die Gegenrichtung hinab. Die Gassen waren menschenleer, nur hier und da ein Pförtner vor irgendwelchen wichtigen Bürogebäuden. Nach einem uns schier endlos vorkommenden Marsch standen wir an den Mauern des Towers of London. Und ich muss schon gestehen, dass der mich beeindruckte. Irgendwie hatte ich immer nur diesen Mittelteil mit den vier Türmen vor Augen, wenn man vom Tower sprach. Aber diese wehrhafte Burg mit seinen Zinnen und Mauern war schon ziemlich gewaltig. Entlang jener Mauern umrundeten wir den ehemaligen Herrschaftsitz halb und betraten zur Krönung noch die Tower Bridge. Ich versuchte krampfhaft ein Foto direkt von der Mitte der Fahrbahn aus zu bekommen, doch der zwar schwache doch stetige Verkehr und das Gekreische meiner Begleitung gaben mir kaum eine Chance dazu. Hektisch schoss ich ein einigermaßen scharfes Bild.
Es wurde langsam Zeit. Einigermaßen zielgerichtet liefen wir also zurück zum Bahnhof, wo wir dessen Wiedereröffnung live miterlebten. Erwartungsgemäß wurde auch dieser geschlossen, kurz nachdem wir ihn verlassen hatten. Drinnen erwartete uns schon der Schaffner des StandstedExpresses, der sich zu frühen Stunden noch als Bus manifestierte. Kurz darauf saßen wir drinnen und dann, nach mehr als 24h und 25km, wurde es dunkel um mich herum.
Am Flughafen erwachte ich wieder. Alles ging einigermaßen flott, wir bestiegen eine der ersten Maschinen, die in London starten. Das aktuell wolkenfreie Britannien bei Nacht bot eine passende Kulisse, um die vergangen Stunden in Gedanken Revue passieren lassen zu können. Es war einfach wunderbar, trotz oder auch wegen der Strapazen und Erkenntnisse am Ende. Wenn alles total glatt laufen würde, wäre es doch auch doof, oder? Ich hätte nur gern den einen Cache-Fund mitgenommen. Aber man kann ja nicht alles haben, oder?
Also wir in Deutschland nach dem zweiten Einholen des Sonnenaufgangs binnen eines Tages wieder durch die Wolkendecke stießen erwartete uns ein Bild voller Katastrophen. Wasser wo man nur hinschaute. Das meiste zugefroren. Flussverläufe waren nur noch zu erahnen, Felder wurden zu Seen. Keine Frage, wir waren wieder in der kalten, überfluteten Heimat. Wie unterschiedlich 10°C doch erscheinen können. Ein himmelweiter Unterschied zwischen Insel und Festland.
Wieder in Moabit wurde zuerst der gerade aufmachende China-Döner-Laden angelaufen. So ein Baguette hält nicht wirklich lange vor. Tat gut, in den gerade erwachenden und doch vertrauten Straßen zu sitzen und endlich zur Ruhe zu kommen. Mit Frühstücks-Chinanudeln im Magen. Wir unterhielten uns noch ein wenig mit dem Dönermann, der uns schwarzen Tee spendierte, keinen EarlGrey, aber auch lecker. Ob ich London mögen würde? Ja, total. Ob ich da wohnen wollen würde? Entschiedenes Nein! Eine Stadt ohne Essen und U-Bahn in der Nacht und mit dauernd präsenter und äußerst schriller Sirenenkulisse ist nichts für mich. Und die Abwesendheit von Müll, Hunden und Hundekacke, sowie jeglichen Graffitis und Plakaten ließen London irgendwie steril wirken. Es mag auch andere Stellen geben, doch die lernte ich nicht kennen. Aber für einen mittellangen Aufenthalt wäre ich zu haben, allein um die ganzen Theater einmal zu besuchen. Doch dann nix wie zurück ins ruhige Berlin mit seinen Spätis und Frühstücksdönern. :)
Listening To:
Metallica - Master Of Puppets
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